Teilnehmerbericht vom SPD Bürgerkonvent: Bürgerbeteiligung ist auch nur Politik

SPD Bürgerkonvent 2013
Mein allererster politischer Blogeintrag ist gleich mehreren Zufällen geschuldet. Im letzten Jahr fiel mir nämlich eine Postkarte in die Hände mit der Frage „Was muss in Deutschland besser werden?“ – Man konnte etwas beliebiges draufschreiben und an die SPD schicken. Weil ich Postkarten mit dem Vermerk „Porto zahlt Empfänger“ besonders gern verschicke und mir einen Spaß machen wollte, schrieb ich „Soziale Absicherung für Selbstständige“ auf die Postkarte, warf sie ein und erwartete, dass sie im Willy-Brandt-Haus versanden würde.

Wie ich seit gestern weiß, hat die SPD mehr als 40.000 Rückmeldungen auf ihre Postkartenaktion bekommen. Studenten tippten sie in mühevoller Kleinarbeit ab (wobei 20% online kamen, da war der Aufwand geringer). Jeder Einsender erhielt übrigens eine Rückmeldung. Das hat mich überrascht, aber letztendlich war es auch nur ein Serienbrief mit dem Versprechen, die Einsendung sei erfasst und würde von der SPD berücksichtigt. Bloß wie, fragte ich mich, bei sovielen unterschiedlichen Einsendungen?

Seit gestern weiß ich auch, dass ein SPD-Team 1 Jahr lang mit Planung und Ausführung dieser Aktion namens „Bürger Dialog“ beschäftigt war und die Einsendungen tatsächlich ausgewertet und in sechs Themenkomplexe strukturiert wurden. Von den 40.000 wurden im Januar 2013 einige tausend Bürger angeschrieben (vermutlich zufällig), die eine Einladung zu einer Veranstaltung der Bundes-SPD in Berlin erhielten. 1.300 meldeten sich dafür an, aus denen letztendlich 250 gelost wurden – darunter auch ich, der in Berlin am sogenannten „SPD Bürgerkonvent“ teilnehmen durfte.

Fazit vorweg: Es war interessant mitzuerleben, wie Politik funktioniert. Und so bürgerfern, wie Bundespolitik manchmal scheint, ist sie gar nicht. Bzw. sie muss zwangsläufig so sein, weil sich in der aggregierten Meinung tausender Menschen gar nicht jeder einzelne wiederfinden kann. Das wurde beim SPD Bürgerkonvent sehr deutlich, hier gab es politische Meinungsfindung im Schnelldurchlauf von 9 bis 17 Uhr (mit reichlich Pausen, zugegeben ;).


Ablauf

Der Bürgerkonvent wurde organisatorisch durchgeführt von der Firma SwarmWorks mit dem Geschäftsführer Heiner Koppermann als Moderator. Man erahnt es am Namen: SwarmWorks hat eine Software für „Schwarmintelligenz“ entwickelt – also Ideenfindung aus einer riesigen Masse.

Wir 250 Teilnehmer wurden in 7er Gruppen aufgeteilt, an runde Tische gesetzt und über Computer miteinander vernetzt. Jeweils 42 Teilnehmer (=6 Tische mit 7 Leuten) behandelten eines der sechs Themenfelder (6x42=252 Teilnehmer insgesamt), die die SPD im Vorfeld aus den 40.000 Einsendungen herausgearbeitet hatte. Mein Themenfeld war „Mobilität“ – ansonsten war nichts vorgegeben. In der Diskussion musste man keiner SPD-Meinung folgen, bekam kein Briefing vorab und man musste auch kein SPD-Wähler oder gar Parteimitglied sein.

Der Bürgerkonvent mit Software-Unterstützung lief in mehreren Runden ab: Zunächst wurde damit gestartet, haufenweise Probleme einzutippen. Also beispielsweise zu geringe Bustaktungen, zu teure ÖPNV-Tickets, Transportprobleme für Menschen mit Behinderung, unsichere Bahnhöfe, Anschlusszugproblematik bei der Bahn, usw. Daraus wurden schließlich größere Problemfelder gebildet, z.B. „schlechte Mobilität auf dem Land“. Im nächsten Schritt sollten die Teilnehmer Visionen finden, mit denen sich diese Probleme lösen lassen. Wobei zunächst keine konkreten Lösungen sondern eher Stoßrichtungen gefragt waren, wie z.B. die bessere finanzielle Ausstattung von Kommunen für ÖPNV-Aufgaben. Erst als die Stoßrichtungen gebildet waren, ging es an die Arbeit, konkrete Maßnahmen zu entwickeln. Also wie bspw. mehr Geld für ÖPNV bereitgestellt werden kann oder wie sich vorhandene Gelder sinnvoller investieren lassen („Prestigeprojekte wie S21 stoppen“ war z.B. ein Vorschlag). Die mehreren hundert Lösungsvorschläge der Gruppen wurden anschließend wieder aggregiert, hin zu großen Ideen und Handlungsaufträgen an die SPD-Führung. Durch ein Abstimmungstool konnte jede Gruppe sinnvolle Lösungen nach oben voten und unrealistische nach unten (in der Gruppe Energie gab es z.B. den Vorschlag „Atommüll ins Weltall schießen“).

Bis zu diesem Schritt arbeiteten die Gruppen immer in ihrem Themenfeld, also z.B. Mobilität, Steuern, Rente, Energie, usw. Durch die Moderation erhielt man zwischendurch aber stets Einblick in die Arbeit der anderen Gruppen, und welche Probleme bzw. Lösungen dort entwickelt wurden.

In der Schlussrunde wurden die zehn am höchsten bewerteten Ideen jedes Themenbereichs für alle Gruppen zum Voting freigegeben. Der Fokus lag nun auf dem Aspekt „Machbarkeit“. Indem jeder Tisch 30 virtuelle Stimmen zugeteilt bekam, die er auf die 6 besten Vorschläge (aus 60 insgesamt) verteilen durfte, bildeten sich übergeordnete Top-Themen heraus. Aus dem Bereich Mobilität schaffte es leider keine einzige Idee in die Top10. Das war zunächst etwas betrüblich, aber so ist Politik eben: die Mehrheitsmeinung setzt sich durch.

Die vom Bürgerkonvent am höchsten gevoteten Vorschläge sind:

  1. Einführung eines gesetzlich geregelten Mindestlohnes.
  2. Das Einnahmevolumen erhöhen, zum Beispiel: Reichensteuer, Spitzensteuer erhöhen. Sozialabgaben für alle Einkommensbereiche.
  3. Sozialer Wohnungsbau muss ausgebaut werden, auch für altersgerechte Wohnungen.
  4. Keine Sozialisierung von Verlusten und Kosten bei Privatisierung von Gewinnen (Energieversorgung, Banken, Bahn...).
  5. Wasserversorgung sollte weiterhin in staatlicher Hand bleiben.
  6. Bund soll Gesetzgebungskompetenz für Bildung bekommen durch Grundgesetz-Änderung.
  7. Einbeziehung aller Personen in die Krankenversicherung.
  8. Mehr Wertschätzung durch bessere Entlohnung bei Arbeitnehmern im sozialen Bereich (personenbzeogene Dienstleistungen).
  9. Wie die Bergwerke sollten auch die Energiekonzerne für Folgeschäden haften, indem sie Rückstellungen bilden.
  10. Förderprogramm von Ganztags-Kitas und -schulen durch den Bund.
  11. Neue Lastenverteilung, da Gemeinden überproportional belastet sind.

Man könnte einwenden, dass sich viele der obigen Punkte sehr allgemein, unkonkret und gar nicht neu anhören. Das stimmt einerseits, andererseits auch wieder nicht. Die elf Topthemen sind ja die Summe hunderter einzelner Lösungsideen. Deshalb müssen sie so allgemein formuliert sein, und können nicht bloß Teilaspekte abdecken, von denen wenige Bürger betroffen sind. In der Abstimmung hat sich deutlich gezeigt, dass „Einzelschicksale“ hintenrüber fallen wie z.B. bessere Radwege in Thüringen, die Vernetzung von Hansestädten oder der Wunsch nach freundlicheren Busfahrern. Mehrheitsfähig sind nur große „Visionen“, mit denen jeder in Deutschland etwas anfangen kann. Und deshalb freut es mich einerseits, dass in den Top10 Themen enthalten sind, für die ich am Tisch mit „Like“ gestimmt habe. Andererseits lehne ich z.B. den Vorschlag „Einbeziehung aller Personen in die Krankenversicherung“ ab – aber man kann nicht alles haben. Und keine von den Bürgern erarbeitete Idee ist verloren, sichert SwarmWorks zu. Die SPD bekommt für die weitere Parteiarbeit alles dokumentiert und strukturiert übergeben.

Der brisanteste Vorschlag war übrigens „Bund soll Gesetzgebungskompetenz für Bildung bekommen durch Grundgesetz-Änderung“ – als wir dazu am Tisch über den Aspekt Machbarkeit gesprochen haben, kamen wir zu keiner Lösung. Haben dem Vorschlag aber trotzdem die Höchstzahl von 5 Punkten gegeben und gedacht: „Wir müssen ja nur für die gute Sache sein, die Politiker sollen später selbst sehen, wie sie es umsetzen.“ Spätestens da endet wohl die Macht der Bürger, denn den Ländern Kompetenz wegzunehmen – das wird selbst für eine SPD-Bundesregierung nicht einfach.


Das Drumherum

Die Veranstaltung war sehr gut organisiert. Ich erlaube mir eine geschätzte Hochrechnung der Kosten, um aufzuzeigen, dass es keine Alibi-Veranstaltung war sondern die SPD echtes Geld in die Hand genommen hat:

Hotelzimmer mit Frühstück für 250 Personen: .......... € 15.000
Bahnfahrkarten für 250 Personen: ............................ € 30.000
Raummiete für Abendveranstaltung ......................... € 8.000
Livemusik bei Abendveranstaltung ..........................  € 2.000
Essen bei Abendveranstaltung .................................. € 7.000
Sicherheitsdienst für 2 Tage ...................................... € ?
Raummiete für Bürgerkonvent .................................. € 6000
Bühne ....................................................................... € 3000
Catering .................................................................... € 8.000
Moderation und technische Ausstattung von Swarmworks € > 10.000
Mehrköpfiges Redaktionsteam von Swarmworks ....... € ?
Regie, Licht, Ton ....................................................... € 2000
2 Sanitäter ................................................................ € 1000
Jede Menge SPD-Mitarbeiter für Presse, Betreuung, Information, Foto, Video, etc.
................................................................................  SUMME: wohl knapp 100.000 Euro


Die Veranstaltung ist übrigens einzigartig gewesen, nie zuvor hat eine Partei die Software von SwarmWorks zur Bürgerbeteiligung eingesetzt. Und lt. Aussage des Geschäftsführers ist er damit auch bei allen anderen Parteien abgeblitzt – lediglich die SPD kam selbst auf ihn zu und hat danach gefragt.

Aufgrund der Kosten könne man dieses Event nicht ständig wiederholen, so Peer Steinbrück am Schluss der Veranstaltung. Aber er will sich im Jahr 2015 die erarbeiteten Bürgerthemen wieder vorlegen lassen und Rechenschaft ablegen, was umgesetzt wurde und was nicht. Zunächst einmal steht sowieso der SPD-Parteitag in Augsburg auf dem Programm. Dort müssen die Parteigremien beschließen, welche Themen vom Bürgerkonvent offiziell in das Wahlprogramm der SPD aufgenommen werden.


Viele Prominente

Die SPD hat den Bürgerkonvent für die Öffentlichkeitsarbeit genutzt, es waren haufenweise Reporter und Kamerateams anwesend und natürlich Spitzenpolitiker wie Sigmar Gabriel, Peer Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier, Andrea Nahles, Ralf Stegner und Barbara Hendricks. Letztere ist Schatzmeisterin der SPD und wurde ziemlich oft erwähnt. In der Mittagspause stand Peer Steinbrück mit seinem Bodyguard in der Buffetschlange, das war kurios anzusehen. Er meinte übrigens, die Medien werden ihn demnächst noch als Steuererhöhungskanzler hinstellen, davon solle man sich nicht kirre machen lassen. Positiv war, dass die SPD-Politiker durchgehend an der Veranstaltung teilgenommen haben und nicht bloß wenige Minuten für eine Ansprache oder aus Scheininteresse.

Während des Bürgerkonvents waren die Politiker an den Gruppentischen unterwegs und konnten als Experten für bestimmte Fachthemen hinzugezogen werden. Die Politiker nahmen aber keinen Einfluss auf die Diskussion oder lenkten sie in bestimmte Richtungen. In der Mittagspause konnte ich mit halbem Ohr allerdings zuhören, wie ein SPD-Berufspolitiker launig meinte: „Da kommen natürlich viele Vorschläge, aber über die Finanzierung macht sich keiner von denen Gedanken.“ Damit hatte er durchaus recht ;-)

Insgesamt vermittelten alle Politiker, die man sonst nur aus dem Fernsehen kennt, im echten Leben einen ganz normalen Eindruck. Es sind ja auch nur Menschen. Und umgekehrt gilt: Die Bürger sind auch nur Politiker, die im Zweifel Phrasen dreschen, die gut klingen.

In einigen Leser-Kommentaren auf Newsseiten wurde übrigens die Vermutung geäußert, die SPD hätte die Teilnehmer vorher gebrieft oder ähnliches. Schließlich sei es verwunderlich, dass die Top-Themen der Bürger auch allesamt SPD-Themen widerspiegeln. Dazu ein Beispiel aus der Gruppendiskussion an meinem Tisch: Als das Problem überfüllter LKW-Rastplätze wegen des Sonntagsfahrverbots besprochen wurde, hatte ich den Vorschlag, das Sonntagsfahrverbot doch einfach aufzuheben. Dieser verwegene Vorschlag kam nicht gut an ;) Damit hatte ich allerdings auch nicht gerechnet, schließlich wurde der Bürgerkonvent nicht von der FDP veranstaltet. Letztendlich waren es die Meinungen meiner 6 Tischnachbarn, die mich in diesem Punkt überstimmten. Der Effekt, dass die Top-Ten-Bürgerthemen alle sozialdemokratisch geprägt sind, ist also nicht auf Einflussnahme oder Briefings zurückzuführen, sondern schlicht der Tatsache geschuldet, dass die Mehrheit der Teilnehmer sozialdemokratisch eingestellt ist. Wie nicht anders zu erwarten, bei einer SPD-Veranstaltung.

Ich bin gespannt, wie viele der Bürgerthemen in das SPD-Wahlprogramm einfließen –- und ob ich die SPD im Herbst tatsächlich wähle.    


Veröffentlicht am: 2013-03-03 14:30:08